carpe librum -- rezensionen

Oskar Voxlauer läuft von zu Hause fort, wie Jungs in seinem Alter - 16, 17 - das eben so tun. Zehn Jahre später kehrt er zurück: Sein Vater ist tot, seine Mutter vorzeitig gealtert, sein Heimatstädtchen Niessen - so weltabgeschieden es im letzten Winkel Kärntens auch liegen mag - hat sich verändert.

So weit, so gut - fast eine normale Romanhandlung...

Doch die Zeiten sind hart: es ist der Oktober 1917. Die Möglichkeiten, die ein junger Mann zum Ausreißen hat, sind begrenzt. Er zieht als Soldat in den Krieg. Als er im März 1938 zurückkehrt, sind die Zeiten immer noch hart. Weltanschauliche, politische und die üblichen Kleinstadtgräben klaffen in Niessen tiefer denn je.

Voxlauer, Sohn aus gutem Hause, Deserteur, Bolschewik und lange Zeit mit einer Ukrainerin in wilder Ehe liiert, hat einerseits seine Vergangenheit zu bewältigen und sich andererseits in diese Grabenwelt einzuleben. Niemand, der ihn mit offenen Armen empfangen würde, niemand, dem nicht irgend ein Detail seiner Biografie höchst suspekt erschiene. Niemand andererseits, dem er sein Vertrauen schenken wollte. Nicht nur die Zeiten sind hart, die Menschen sind es auch; hart und unherzlich, ohne einen weichen Kern unter der Schale.

Und schon steht die Eskalation bevor: Die Nazis übernehmen Österreich - die Geschichte nimmt ihren Lauf. Der Stoff, aus dem die Bestseller sind? Sicherlich. Und nicht nur das. John Wrays ‘poetische Beschwörung der österreichischen Landschaft’, wie die amerikanische Presse lobhudelt, die Plastizität, in der er mit Wörtern allzu eindrückliche Bilder schafft, scheinen bereits die künftige Verfilmung im Auge zu haben. Die zahlreichen Tipp- und Rechtschreibfehler deuten an, dass man es mit dem Redigieren eilig hatte.

Und dennoch: Neben, vielmehr hinter oder unter den geschichtlichen Fakten und den spröden, äußeren Beziehungen, die diese harten Bergmenschen in diesen harten Zeiten zueinander unterhalten (oder eben auch nicht), kommen in tagebuchartigen Rückblenden plötzlich höchst sensible, aufschlussreiche und einfühlsame Reflexionen und Einsichten zum Vorschein:

Die meisten der Menschen, die mir über den Weg liefen, waren zu neugierig oder zu eingeschüchtert, um mich fortzujagen. Ich lernte ein paar sehr nützliche Brocken Ukrainisch. Sie bewahrten mich nicht vor den Schlägen, die ich oft einstecken musste, wenn ich beim Stehlen erwischt wurde, aber wenigstens konnte ich zu verstehen geben, dass ich kein Soldat war. Die Prügel waren nicht allzu schlimm, nicht viel mehr als eine symbolische Bestrafung, denn die Männer, die mich schlugen, waren genauso entkräftet und apathisch vor Hunger wie ich. Sie versetzten mir halbherzig ein paar Hiebe, durchsuchten meine Taschen und schlurften zurück in ihre Häuser. Ich war ohne jeden Wert für sie.

Sehr zögerlich nur offenbaren sich diese Innenleben - das Voxlauers, seiner Geliebten, seines Gegenspielers -, und sie zeigen ein schreckliches Gesicht, viele schreckliche Gesichter. Fast wünscht man sich, sie wären nicht zutage getreten.

Wesentlich Neues aus den dunklen Ecken der Geschichte gibt es für Wray freilich nicht ans Tageslicht zu fördern, aber die menschlichen Abgründe bleiben stets ein unergründlicher Quell von Gemeinheiten, Ängsten und Nöten - und stets ergründenswert.

‘Die rechte Hand des Schlafes’ ist ein Buch für alle, die im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst haben, ein Buch aber auch für alle, die einsichtig beschriebene menschliche Ab- und Beweggründe lieben - und nicht zuletzt eine packend erzählte Romanhandlung.