carpe librum -- rezensionen

Dies ist kein Roman, sondern die Erinnerungen eines Ehepaars, nachdem eine unvorstellbare Katstrophe sie getroffen hatte: die außergewöhnliche Geschichte zweier Menschen im Kampf mit den Folgen einer höchst seltenen Krankheit, dem Locked-in-Syndrom.

Philippe Vigand war bis zum 4. Juli 1990 ein langfristig denkender Controller bei einem französischen Buchverlag, seine Frau Stéphane eine gut verdienende Werbechefin. Sie waren ein zufrioedenes Ehepaar mit zwei Töchtern. Am 4. Juli bricht Philippe auf dem Weg zu seiner Arbeit in Neuilly auf offener Straße zusammen.

Die Diagnose der ratlosen Ärzte nach 2 Monaten Koma ist vernichtend für Stéphane und den wieder erwachten Philippe: Locked-in-Syndrom. Er ist gefangen im eigenen Körper, zu keiner Bewegung mehr fähig und zu keinem Laut. Dabei ist er geistig voll da, lediglich die motorische Verbindung zwischen Geist und Körper ist gekappt, denn eine geplatzte Halsarterie hat Millionen von Nervenzellen beschädigt.

Er kann sich nur durch Blinzeln verständlich machen. Stéphane entwickelt einen Sprachcode, damit er sich seinen Mitmenschen verständlich machen, doch nur wenige davon wollen den Code lernen. Erst ein Spezialcomputer schildert er die Hölle seiner Existenz, beschreibt seine hartnäckigen Bemühungen, ein lebenswertes Leben zu führen und einen Platz im Kreis seiner Angehörigen und Freunde zurückzuerobern. Denn selbst "gute Freunde" kommen mit dieser Situation nicht zurecht, während sich bisherige Bekannte nun als wahre Helden erweisen.

Am Ende steht ein vorläufiger Sieg, den er gemeinsam mit Stéphane erringt. Sie verliert nie den Mut und die Hoffnung, sondern kämpft mit Wut und Entschlossenheit gegen das Unvermeidliche und gegen die Drachen der Bürokratie und der behindertenfeindlichen Gesetze. Philippe: "Kann sich irgendjemand vorstellen, wie es ist, an allen vier Gliedmaßen gelähmt zu sein, stumm und lebendig eingemauert zu sein und auch noch gern zu leben? Nach nunmehr 7 Jahren möchte ich von diesem langen Weg erzählen."

Das klingt nun alles furchtbar abgehoben, so als ob Philippe aus dem Philosophieren nicht mehr herauskäme. Das gegenteil ist richtig: Beide Autoren verstehen genau zu beobachten und ihre Erlebnisse und Erkenntnisse eloquent in Worte zu fassen. So wird die Lektüre kein Hindernislauf, sondern ein Exkurs auf einen Planeten, der jeden von uns jederzeit besuchen kommen kann: das Locked-in-Syndrom (LIS) ist die Hölle auf Erden. Der Originaltitel 'putain de silence' beschreibt dementsprechend das, was das LIS aus ihrem Opfer macht: eine 'Hure der Stille', aber auch des (Tot-) Schweigens, das die menschliche Umwelt, die Gesellschaft gerne darüber breiten würde. Daher ist dieses Buch ein Befreiungsversuch, ein Ausbruch aus dem Schweigen. Ich wünsche ihm daher viele Leser.