Frank Schulz

Morbus fonticuli

Roman. Eichborn Verlag, 767 Seiten. 34.90 EUR . ISBN: 3821807261

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Frank  Schulz: Morbus fonticuli

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Frank Schulz schafft den Sprung in die erste Garde der deutschsprachigen Literatur

Zehn Jahre ist es nun her, dass mir mit „Kolks blonde Bräute“ der ultimative Kneipen-Roman in die Hände fiel. Bereits mit dem ersten Satz fesselte dieses Erstlingswerk meine Aufmerksamkeit: „Strapse! Schwarze Strapse!!“ hieß es dort und zeigte eine Richtung an, in die es gehen sollte. In die andere Richtung schwenkt der Roman kurz darauf, als die leichtbekleidete Blondine dem überrumpelten Briefträger Kolk ein „guhdgekültiß Bier im Kühlschrang“ in Aussicht stellt. Sex und Saufen sind die beherrschenden Themen einer kleinen Freundes-Clique aus dem Örtchen Hagen bei Stade. Mit einem unglaublich feinen Gespür für sprachliche Eigenheiten entwarf Frank Schulz bizarre Kneipendialoge einzigartiger Genialität, was ihm allerdings nur den Status eines „Geheimtipps“ einbrachte - vielleicht lag es an der wenig massenkompatiblen Verwendung des niederdeutschen Dialekts, vielleicht lag es an der Thematik, die auf den ersten Blick keinen ernsthaften Roman erwarten lässt. Doch ein treuer Fankreis, zu dem ich mich zählen möchte, konnte es kaum erwarten, die Fortsetzung der „Hagener Trilogie“ zu lesen.

Mit einer Fortführung der Trilogie hatte ich schon nicht mehr gerechnet, als nun plötzlich doch ein neues Prosawerk von Frank Schulz angekündigt wurde. Annähernd zeitgleich mit der Einleitung des Konkursverfahrens gegen den Haffmans-Verlag setzte Frank Schulz mit „Morbus fonticuli“ zum Sprung in die erste Garde der deutschsprachigen Literatur an.

„Morbus fonticuli“ ist nicht allein vom Umfang her ein imposantes Werk, es besticht durch seine gelungene Komposition, sein wogendes Wechselspiel zwischen Komödie und Tragödie. Das Niederdeutsche hat Schulz weitgehend zurückgenommen - und die wenigen in diesem Dialekt verfassten Sätze werden im Anhang erläutert. Das tut der „Echtheit“ der Dialoge keinen Abbruch, erleichtert aber dem Leser aus weiter südlichen Bundesländern den Zugang zum Text.

Der Roman setzt ein mit einer Expedition von Freunden auf der Suche nach Bodo Morten, einem Mann, der sich tatsächlich mit den Worten „Ich geh nur noch mal eben Zigaretten holen...“ aus seinem Alltagsleben verabschiedet hat. Die Freunde, vor allem aber die Ehefrau, müssen bei Ihren Nachforschungen erfahren, dass Bodo über Jahre hinweg ein zermürbendes Doppelleben geführt hat. In einem geheimen „Kabuff“ entdecken sie mehrere Journale, in denen Bodo seinen eigenen Absturz detailliert dokumentiert hat. Die scheinbare Ordnung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen von Herbst 94 bis Sommer 95 wird ad absurdum geführt durch ungeordnete Abschweifungen in die Jahre davor. So werden dem Leser Puzzleteile vor die Füße geworfen, aus denen er sich die schicksalhaften „Bärbel“-Phasen in Bodo Mortens Leben zusammensetzen kann.

Bärbel Befeld, das ist die prollige Inkarnation von Bodos feuchten Träumen. Blöde, aber geil - und nicht zuletzt etliche Jahre jünger als Bodo - wickelt Bärbel den abgebrochenen Geisteswissenschaftler um den kleinen Finger. Ihrem phänomenalen Hintern, vor allem aber ihrer sowohl billigen als auch willigen Ausstrahlung ist Bodo verfallen. Doch Bodo erzählt nicht nur von seinen alkoholgetränkten Exzessen mit Bärbel, er ergeht sich in zahllosen Nebenhandlungen, von denen die Schilderungen aus dem Redaktionsalltag des Anzeigenblattes „Elbe Echo“ den größten Umfang einnehmen dürften. Allein für diese Einblicke sollte Schulz das Ehrenabzeichen der Anonymen Lokaljournalisten verliehen werden. Bis in die kleinste Nebenfigur hinein hat Schulz sein Personal mit differenzierten Spracheigenheiten ausgestattet. Stockende Rede, mannigfaltige Füllwörter, aus dem Ruder laufender Satzbau, sich überschlagende und letztlich im Sande verlaufende Argumentationsketten, alkoholisiertes Lallen, eigentümlich gesprochene Konsonanten - bis hin zu unangenehmen Rachengeräuschen („nörg“) oder dem eingestreuten Schluckauf schaut Schulz seinen Figuren nicht nur aufs sondern geradezu ins Maul.

Frank Schulz macht aus seiner Bewunderung für Eckhard Henscheid kein Geheimnis und tatsächlich dürfte es seit dessen in den Siebziger Jahren erschienener „Trilogie des laufenden Schwachsinns“ keine so sprachlich ausgefeilte Chronik ausufernder Zechtouren gegeben haben.

Nun soll aber nicht der Eindruck entstehen, es handle sich bei „Morbus fonticuli“ um einen einzigen großen Spaß. Mit seiner benebelten Nabelschau offenbart Bodo Morten seine bedenklich angeknackste Psyche. Er leidet darunter, in seinem Leben noch nichts richtig auf die Beine gestellt zu haben. Er leidet darunter, dass seine Frau Anita beruflich erfolgreich ist, während er sich kaum von der Couch zum Arbeitsamt aufraffen kann. Er leidet unter dem sexuellen Sog, den Bärbel auf ihn ausübt. Er leidet unter Orientierungslosigkeit, unter Heimatlosigkeit. Vor allem aber leidet er unter seinem grenzenlosen Selbstmitleid. Er ist ein Hypochonder, der sich beinahe lustvoll in ein selbst erfundenes Krankheitsbild einfügt - bis der Weg in die Psychiatrie geebnet ist.

Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Roman und wirkt inmitten des prallen Lebens verstörend auf den Leser. Der Selbstmord des Blumenhändlers, der ebenfalls Bärbel verfallen war, der Hund, der sich aus dem Griff eines kleinen Jungen löst und fröhlich kläffend seinem Schicksal in Form eines LKW begegnet, oder aber der weit zurückliegende Selbstmord von Kolks Vater, einem „schwermütigen Säufer“, damals im Kaff. Gerade durch die überschwängliche Komik weiter Strecken des Romans haben solche Passagen eine ungeheure Fallhöhe - die verhängnisvolle Feier im Kreis von Bärbels Familie ist eines der wundervollsten Beispiele dafür, wie Schulz derbe Erotik, alkoholselige Dialoge und hintergründig böse Anspielungen gekonnt miteinander verknüpft.

Schulz arbeitet bereits emsig am dritten Teil seiner Trilogie und man kann ihm (und sich selbst als begeistertem Leser) nur wünschen, dass er in einem engagierten Verlag ein neues Zuhause finden wird. Gerd Haffmans hat mit diesem Roman einen glanzvollen Schlusspunkt unter seine verlegerische Laufbahn gesetzt - schade nur, dass seine Autoren nun unter seinem eigenwilligen Geschäftsgebaren leiden müssen. Durch undurchsichtige Leasing-Verträge herrscht Unklarheit darüber, wie die Konkursmasse des Haffmans-Verlages abzuwickeln ist; durch unklare Rechtsverhältnisse ist völlig offen, wann „Morbus fonticuli“ wieder im Buchhandel zu finden sein wird. Bleibt für Schulz und seine potentiellen Leser nur zu hoffen, dass hier bald eine Regelung getroffen wird.







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