Nelly Arcan

Hure

Roman. C.H. Beck, 208 Seiten. ISBN: 3406493181

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Nelly  Arcan: Hure

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Ein Höhepunkt jagt den anderen, die nouvelle pornographie von Pariser Verlegern läuft auf Hochtouren. Jüngstes Exponat ist die 27-jährige Nelly Arcan aus Montréal, der Hauptstadt der Tabledance-Clubs...

Unter den professionellen Meinungsmachern beklagt ja ganz speziell ein arrivierter Kritiker immer wieder und gern den Mangel an Erotik in der Literatur. Die Forderung nur in rollenden RR's denkbar, das "arriviert/angekommen" sowohl in Bezug auf Karriere als auch das hintere Lebensdrittel des nun im Zirkel mit sich selbst räsonierenden Kritikers. Hochkulturelle wollen also, was Rock'n'Roll immer schon simuliert: dass es saftig zur Sache geht. Warum soll den Angekommenen auch keiner abgehen, alle Kunst spricht ja außer Kopf auch Bauch an. Was weiter unten stattfindet, geht schon mal in die Hose, klar. Muss aber nicht.

Während Playboy seinem jahrelangen Lizenzpartner hierzulande untreu wird, Penthouse ganz die Pforten schließt, melden sich in der Lustmetropole Paris nun gebildete wie erfahrene Frauen zu Wort. Auf Klappendeckeln ist Sex immer noch eine Metapher für Skandalöses, und zwischen den Deckeln geht es auch anders zu als in den erwähnten Heftchen; auch frontaler als noch bei Obelisk und Olympia Press, die letztes Jahrhundert im freizügigen Paris neben James Joyce auch Texte über Polygamie, Pädophilie und Homosexualität veröffentlichten. Was Autoren damals schrieben weil sie mussten, scheint heute kalkuliert für einen Kulturbetrieb angefertigt. Waren Henry Miller, Nabokov und Burroughs inhaltlich wie stilistisch gewagt, so ist heute das Vage en vogue. Erkenntnisse werden wenn überhaupt unter spärlichen Deckmäntelchen, Bekenntnisse auf dem Klappentext angedeutet und in Interviews abgewehrt. Im Treiben der Literatenzirkel freut man sich über die Post-Postironie, bei Bistrodiskussionen sorgen sie für erhitzte Gemüter. Alles inklusive eingebauter Abwehrdialektik, da alles ohnehin ohne Lust, Leidenschaft oder neue Einsichten vorgetragen wird. Im Luftschlösschen der Hochkultur lässt sich das Thema endlos auswalzen, für Verlage in bare Münze verwandeln. Noch.

Statt Erotik also Exhibitionismus, statt der sattsam abgehandelten Nabelbetrachtungen nun also Vaginauntersuchungen.

In Das sexuelle Leben der Catherine M. (Goldmann, München 2001) reiht Catherine Millet Männer so aneinander wie penetrant pubertäre Phantasien, so dass einen am Ende alles so erregt wie der gelangweilte Blick der nächstgelegenen Stripperin, liegend oder stehend oder sich verrenkend. In eine ähnliche Bresche geht Christine Angots Autofiktion Inzest (Tropen-Verlag, Köln 2001), das als Schummelpackung kaum fassbar ist und in seiner erzreaktionären Sicht von Homosexualität zwischen den Zeilen eigentlich nur Minderheiten schockt. (Vladimir Sorokin entzürnt immerhin die russische Staatsanwaltschaft wegen angeblicher Verbreitung von Pornografie...).

So weit das Umfeld der nouvelle pornographie. Die Frauen kommen zu Wort. Sie geben sich nihilistisch, schreiben fast alle "atemlos", meist ohne wirklich zu beschreiben. Sie gebären sich wie der Titel der ehemaligen Pornodarstellerin Raffaela Anderson - Hard. Nelly Arcan, aufgewachsen in der Provinz Kanadas sieht auf Fotos zwar so aus wie ein Einzelkind, dem in einer Urlaubertraumlandschaft kaum ein Wunsch unerfüllt blieb, das in Kreuzworträtseln bei Generation ??? nicht an "X" sondern "Golf" denkt, und dessen Literaturstudium von progressiv-liberalen Eltern großzügigst bezuschusst wird. Doch Hure simuliert eine andere Realität. Als semi-autobiografische Erzählung tituliert, ist die Geschichte weder hier noch dort: spielt nicht in dem Bordell an der Rückseite der Uni, genaugenommen spielt sich überhaupt nichts ab, das dann aber in dem Zimmerchen des Bordells. Statt narrativem Erzählen dreht sich Arcan um sich, Mama, Papa und ein paar Kunden. Bei einer 27-Jährigen könnte von mehr die Rede sein als jenem Nebenjob, dem uralten Rollenspiel der Frau(en), Ungehorsam seit Eva usw. Ist aber nicht. Was in Illustrierten-Reportagen schon vor Jahren vorkam, was schon vor Simone de Beauvoir wahrgenommen wurde, Ödipus und andere Allgemeinplätze werden in einem Tekkno-Endlos-Loop immer wieder und wieder und wieder durchgekaut. Jeder Satz ist zwischen zwei und drei Seiten lang, so dass man sich unweigerlich fragt: War hier ein mit abgegriffenen Begriffen gefütterter Word-Prozessor am Abschmieren, noch bevor man ihm befahl, ab und an auch mal einen Punkt zu machen?

Atemlos wird die Schreibe nicht - nur weil zwei Durchschnittssätze aus Hure diesen kompletten Text hier bestreiten könnten. Diarrhöe schon eher. Statt Einblicken gibt es an der Oberfläche pinselnde Kosmetik, endlose Satzvergrößerungen, die aus Push-up-Sentenzen quillen. Das ist stellenweise unterhaltend ("Deshalb habe ich lieber so viele Männer wie möglich, einen Haufen von Freiern, Professoren, Ärzten und Psychoanalytikern, von denen jeder sein Fachgebiet hat, jeder macht sich an dem einen oder anderen Teil von mir zu schaffen und sorgt damit für die gesunde Entwicklung des Ganzen, ein einziger Mann in meinem Leben wäre gefährlich, für einen alleine ist zuviel Haß in mir"), zumeist ermüdend.

Soll aber keiner glauben, sie würde das verteidigen. Hure ist einfach das Resultat einiger spontan darniedergeschreibener Ideen, wie Arcan Librairie Pantoute gesteht: "Mit 25 waren einige Dinge in mir gereift, und ich beschloss, sie in einem Tagebuch festzuhalten. Zunächst, um Gedanken und Reflexionen niederzuschreiben, die mich schon lange beschäftigten, dann, um sie einem Psychoanalytiker vorzulesen. Ich traf einen mit einem künstlerischen Gespür, Patrick Cady. Er hat schließlich die Analyse sein lassen, weil er die literarische Qualität der Aufzeichnungen erkannte. Er riet mir, ein Buch daraus zu machen."

Sollen sich die Gemüter daran erhitzen, Kontroversen entfachen? An Paris' Porno/Sex/Erotik-Klassiker knüpft Hure jedenfalls nicht an. Einen Regenwurm wie 1973 in Catherine Breillats Ein Mädchen (Kowalke & Co., Berlin 2001), durchaus vergleichbar mit der fischigen Chateau-Marmont-Episode von Led Zeppelin, gibt es jedenfalls nicht. Auch keinen konsequenten Postfeminismus à la Know Porno statt nur PorNo. Lakonischen Realismus wie Emile Ajars Du hast das Leben noch vor dir muss man gar nicht erst suchen; noch weniger Atmosphären wie in Millers Stille Tage in Clichy (Rowohlt) oder Schattenseiten und -welten wie Burroughs' Queer (Zweitausendeins, 1978). Was ist also zu tun, will man neue Perspektiven? Virgine Despentes lesen: als Betreiberin eines Plattenladens, dann Rap-Sängerin und Masseuse lernte sie viel über Angebot und Nachfrage, und in Baise-moi - Fick mich (Rowohlt, ursprünglich Wölfe fangen) geht sie auch stilistisch in die Vollen.

© Matthias Penzel, 2004. Original erschien dieser Text in Rolling Stone 9/2002






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