Stanislaw Lem

Die vollkommene Leere

SF. Suhrkamp, Frankfurt/M.. 280 Seiten. 8.50 EUR . ISBN: 3518372076

Anspruchsvoll: Persiflagen und Gedankenspiele
Stanislaw  Lem: Die vollkommene Leere

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Dieses Buch des gelehrten Polen ist eine fast einmalige Sache: Er stellt Rezensionen von Bücher und Reden vor, die es gar nicht gibt. Das ist zuweilen recht lustig, dann aber auch wieder recht ernst und sogar philosophisch. Insgesamt bietet das Buch interessante Gedankenspiele darüber, was wäre wenn.

Der Autor
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Stanislaw Lem, geboren am 12. September 1921 in Lwòw, dem galizischen Lemberg, lebt heute in Krakow. Er studierte Medizin und war nach dem Staatsexamen als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie tätig. Privat beschäftigte er sich mit Problemen der Kybernetik, der Mathematik und übersetzte wissenschaftliche Publikationen. 1985 wurde Lem mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet und 1987 mit dem Literaturpreis der Alfred Jurzykowski Foundation. Am bekanntesten wurde er für die literarische Vorlage für zwei Filme: „Solaris“, das 1961 veröffentlicht wurde. „Die vollkommene Leere“ erschien bereits 1971, nach anderen Quellen erst 1973.

Wichtige weitere Bücher Lems:
Eden, 1959
Summa technologiae, 1964
Der Unbesiegbare, 1964
Kyberiade; Robotermärchen, 1965
Sterntagebücher, 1959/1971
Der futurologische Kongress, 1971

Inhalte
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Das Buch enthält Rezensionen zu nicht existierenden Büchern, ein besonderer Kunstgriff, der selten in der Literatur verwendet wurde. Der Autor kann (als Rezensent) aus Distanz Kritik gegenüber seinen ‚Werken’ – respektive Ideen – üben. Der Vorteil für den Leser besteht darin, sich die Lem’schen Gedankengebäude selbst ausschmücken und sich das fiktive Buch vorstellen zu können.

Diese Pseudorezensionen lassen sich in drei Gruppen aufteilen:

Gruppe Nr. 1

Erstens: Parodien und Spott. Sie beziehen sich vor allem auf „moderne“ schriftstellerische Tendenzen. „Robinsoden“ (sic!), „Gigamesh“ (sic!), “Sexplosion“, “Nichts oder die Konsequenz“ (ein Buch, das wirklich kein Mensch schreiben **kann**), “Perycalypsis“, “Do yourself a book“, “Odysseus aus Ithaka“, “Du“ – dies sind Titel von „Büchern“, die eher zur ersten Gruppe gehören.

Eingeleitet wird das Buch von der titelgebenden Rezension zu "Die vollkommene Leere" von S. Lem, in der ein gewisser S. Lem das Buch verreißt ... In "Gigamesh" wird der "Höhepunkt literarischen Schaffens" gewürdigt, ein Seitenhieb auf James Joyce und Literaturwissenchaftler.

Gruppe Nr. 2

Zweitens: Skizzen, gewissermaßen Embryos oder Exposés von Romanen. Hier findet der Leser Ideen, für die dem Autor die Zeit fehlte, eine Geschichte daraus zu formen. Angesichts der vielen Einfälle, die ein Mensch hat, fallen eben viele dem Zeitmangel zum Opfer, er kann nicht jeden Geistesblitz zu einer Geschichte ausformen, dazu ist das Leben zu kurz.

Zur Gruppe zwei sind zu rechnen: Gruppenführer Louis XVI, Der Idiot, Non serviam. Davon ist die erstgenannte Rezension besonders erwähnenswert. Die Geschichte handelt von einem ehemaligen Schnittstellen-Gruppenführer, der mit einigen Kameraden dem Untergang des 3. Reiches entgangen ist und sich nun mit Gold aus einer NS-Kasse in Argentinien sein eigenes Königreich aufbaut. Das Faszinierendste daran ist, dass dieser Möchtegern-Kaiser die perfekte Illusion einer Feudalherrschaft schaffen will und daher nicht nur „höfische Sitten“ einführt, sondern auch sein eigenes Welt-Bild schafft, in dem an Stelle von Argentinien Spanien steht – jeder, der diese Fiktion durchbricht, wird umgebracht.

Der Neffe dieses Wahnsinnigen wird nun ebenfalls an den Hof geholt und befindet sich dort schon bald in der Situation von Shakespeares Prinz Hamlet. Lems dahinter steckende Gedanke: „Und der Schuft genießt die Früchte des Bösen erst dann mit größter Wonne, wenn er es in der Majestät des Rechts tun kann; diese Etat-Profis des KZ-Sadismus fühlen sich höchst befriedigt durch die Möglichkeit, manche ihrer früheren Praktiken zu wiederholen – mit der Aureole und Glorie höfischen Prunks, in seinem jede schmutzige Tat steigernden Licht; gerade deshalb bemühen sich alle freiwillig bei ihren schändlichen Taten darum, wenigstens mit ihren Worten nicht aus der Bischofs- oder Fürstenrolle zu fallen.“ (Seite 68) Schade, dass es dieses Buch nicht gibt.

Gruppe Nr. 3

Die dritte und letzte Gruppe: philosophische Gedanken, dazu gehören Weltanschauungen, die denen, die Lem vermutlich pflegt, entgegenstehen. Diese dritte Gruppe erscheint mir als die interessanteste. Hier finden sich die Texte „Being Inc.“, „Die Kultur als Fehler“, „De impossibilitate vitae /prognoscendi“ und „Die neue Kosmogonie“.

„Die Kultur als Fehler“ ist ein gnadenloses Plädoyer für technischen Fortschritt, auch wenn dabei der Mensch als solcher zermalmt wird. Alles, was wir als ‚Kultur’ bezeichnen und worauf wir stolz sind, wird hier verdammt als Kärfteverschwendung und unnütze Behinderung der Evolution, für die der Mensch nur eine Zwischenstufe darstellt. Hier nimmt der Autor womöglich seine eigene Weitsicht auf die Hörner.

Ein weiteres Beispiel: „De impossibilitate vitae / Prognoscendi“ (wörtlich: die Unmöglichkeit des Lebens / vorherzuwissen). Das scheint auf den ersten Blick eine Humoreske zu sein. Man erfährt hier, dass ein Mensch namens Kouska geboren wurde, weil vor 349.000 Jahren Mammuts Eukalyptusblüten fraßen, davon Durchfall bekamen, wodurch Eukalyptuswälder wuchsen, über deren Wurzeln eine frühe Affenmenschendame auf der Flucht stolperte und daher von einem Affenmenschenmann vergewaltigt wurde, woraufhin sich die Erbinformationen so vermischten, dass 30.000 Generationen später das Mona-Lisa-ähnliche Lächeln auf dem Gesicht einer Krankenschwester erschien, das einen Chirurgen bezauberte, der dann schließlich (endlich!) Kouskas Vater wurde. – Wem dieser Gedankengang nicht verdreht genug erscheint, kann in dieser Rezension noch weitaus verdrehtere nachlesen.

Das bemerkenswerteste Stückchen in diesem Buch ist jedoch „Die neue Kosmogonie“. Das ist keine Pseudorezension, sondern der Abdruck einer Rede, die nie gehalten wurde. Vor dem Leser entrollt der Autor ein völlig neues Weltbild und untermauert es so glaubhaft mit Argumenten, dass es den wissenschaftlich-philosophischen Theorien eines Erichs von Däniken oder Hoimar von Ditfurth in nichts nachsteht.

In dieser fiktiven Rede wird die Erde als Spiel und Spielplatz uralter und mächtiger außerirdischer Zivilisationen dargestellt. Die Argumentation verläuft etwa folgendermaßen: Da nach allen bisherigen (= bis 1984) Kenntnissen außerirdische Zivilisationen fast sicher existieren, aber von ihnen bisher noch kein Lebenszeichen aufgefangen wurde, ist dies eine unerklärliche Tatsache, die zur Grundlage der Theorie wird. Denn das Universum ist etwa 10 bis 12 Mrd. Jahre alt, die Erde dagegen nur 5 Milliarden. Die Zivilisationen, die also in der Anfangszeit des Universum erwuchsen (und nicht untergingen), wären nun Milliarden Jahre älter als unsere.

Die Möglichkeiten, über die solche Zivilisationen verfügen, liegen jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Hier knüpft die Theorie, die übrigens ein gewisser Acheropoulos entwickelt haben soll, an. Sie erklärt schlicht und einfach, dass der gesamte bekannte Kosmos bereits von diesen Zivilisationen verändert und gestaltet worden ist – selbst die Physik, wie wir sie kennen, ist ihr Produkt. Einige Textbeispiele: „Denn was sagt nun eigentlich Acheropoulos weiter in demselben Kapitel? Nicht mehr und nicht weniger, als dass die Physik des Universums die Folge seiner – das heißt, der kosmischen – Soziologie ist.“ (S. 230) „Wenn als ‚künstlich’ gelten soll, was durch aktive Intelligenz umgeformt worden ist, dann ist der ganze uns umgebende Kosmos bereits künstlich.“ (235) „Das erste Gesetz [des Acheropoulos] besagt, dass keine Zivilisation niederer Stufe die Spieler entdecken kann – denn sie schweigen nicht nur, sondern ihr Vorgehen sticht auch in nichts vom kosmischen Hintergrund ab, und dies deshalb, weil es selbst gerade dieser Hintergrund ist.“ (250)

Dies stellt gleichzeitig die Antwort auf den Einwand dar, warum der Mensch diese Superzivilisation nie entdeckt hat. Der Autor bzw. sein Redner führt die Sache noch weiter aus: Das Universum ist nicht so, wie es ist, aufgrund der physikalischen Gesetze, nein, diese Gesetze sind eine Folge der Strategie der kosmischen Spieler, ein Kosmos, der nicht abgesprochen wurde, denn: „Darum meldet sich nicht der eine Spieler beim anderen: Selbst haben sie sich dies unmöglich gemacht. Das war eine der Normen der Stabilisierung des Spiels – und somit auch der Kosmogonie.“ (247)

Diese Kosmogonie, also Welt-Schaffung, gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten gestaltet jede Zivilisation ihre nahe Umgebung und die physikalischen Gesetze nach ihren Wünschen, im zweiten prallen die verschiedenen ‚Physikzellen’ an den Rändern aufeinander, und es kommt zu Verwüstungen. Im dritten Zeitabschnitt einigen sich die Kontrahenten stillschweigend, und das Universum wird nach dem Prinzip minimalen Risikos verändert.

Über das Ziel des Spiels wird keine Aussage gemacht, nur einige Spekulationen erlaubt sich der Autor zum Schluss, wenn auch sehr distanziert. Dieses ganze Weltbild, diese verblüffende Theorie, ähnelt sehr einer Synthese aus Religion (‚Gott hat die Welt erschaffen’) und Wissenschaft (‚Die Welt ist von selbst geworden aufgrund der universell geltenden physikalischen Gesetze’), soll aber einen dritten Weg darstellen, nach den Worten des fiktiven Redners: „Im Effekt werden wir um alles auf einmal gebracht: um den Glauben, im Sinne einer im Vollkommenen gipfelnden Transzendenz, wie auch um die Wissenschaft, um ihren soliden, weltlichen und objektiven Ernst.“ (227)

Auch wenn man sich klarmacht, dass diese eindringlich dargelegte Theorie nicht mehr ist als ein phantasievolles Gedankenspiel und vom Autor wohl auch so gedacht war, ist sie nicht verrückter als zahlreiche andere von Wissenschaftlern, Futurologen oder Hobbyphilosophen aufgestellte. Insbesondere ist sie nicht unwahrscheinlicher als die per Bibel überlieferte (und redigierte) Schöpfungsgeschichte. Frappierend ist jedenfalls, wie schnell eine plausible Theorie mit Hilfe von Logik, Rhetorik und einer Portion Vorstellungskraft zusammengezimmert werden kann – natürlich nur von einem Könner wie Stanislaw Lem.

„Was ich bisher gesagt habe, ist unter dem Gesichtspunkt historisch angehäuften Wissens völlig wahnwitzig. Aber die Durchführung von Gedankenexperimenten mit den beliebigsten Voraussetzungen kann uns durch nicht verwehrt werden, solange sie nur logisch widerspruchsfrei sind.“ (239)

Unterm Strich
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Die Rezensionen fiktiver Bücher und Reden verfolgen und erreichen zwei Ziele gleichzeitig: Sie charakterisieren das, was sie aufspießen, und stellen zugleich eine – mehr oder weniger unterhaltsame - Persiflage auf sie dar. Das gelingt stets zur Zufriedenheit des Lesers, aber es gibt dafür Voraussetzungen nicht jeder Leser mitbringt, schon gar nicht in Zeiten der PISA-Misere.

So ist es beispielsweise notwendig, über ein Mindestmaß an Wissen über die Geschichte des Dritten Reiches, James Joyce und diverse kosmologische Theorien zu verfügen. Lem ist Atheist, und das zeigt sich vor allem in seiner „neuen Kosmogonie“. Hier ist kein Ort für einen Gott, nirgends. Das erfordert vom Leser eine gewisse religiöse Offenheit. Allerdings ist nicht gesagt, dass der Autor selbst die Ideen vertritt, die im rezensierten fiktiven (!) Buch vorgetragen werden – ein kluger Schachzug. Ein weiteres Buch mit Einleitungen zu solchen nichtexistierenden Büchern stellt „Imaginäre Größe“ (1976) dar.

Zufall und Notwendigkeit, das Problem der Kommunikation mit fremden Wesen, die Grenzen der Erkenntnis, die Simulation von Welten („Fantomatik“), die Entwicklung der Zivilisation und die Probleme der Schöpfung – das sind Themen, um die Lems Werk immer wieder kreist, häufig in ironischer Form. Auch in „Die vollkommene Leere“ zeigt er sich als skeptischer Spötter, der sich nach ewigen Werten sehnt, die es, wie er sehr wohl weiß, nicht gibt; doch ist ihm das keine Anlass zur existentiellen Verzweiflung, sondern er betont die Notwendigkeit des Handelns, selbst aufgrund vorläufiger, unvollständiger Information.

Nicht nur für mich, sondern auch für viele Kritiker ist Lem der originellste und tiefsinnigste unter den SF-Autoren der Gegenwart, ein Schriftsteller von der Bedeutung eines H.G. Wells, allerdings wesentlich anspruchsvoller in seinen Formen und Ideen. Daher wird er heute kaum noch verlegt, besprochen oder gar in anderen Medien verarbeitet. Der Film „Solaris“ von Soderbergh/Clooney ist eine große Ausnahme von dieser Regel, und keine besonders gelungene.

Michael Matzer © 2004ff

Info: Doskonala proznia, 1971, nach anderen Quellen erst 1973; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main; 259 Seiten, ISBN: 3518372076, Amazon-Preis: EUR 8,50

2. Ausgabe: Sondereinband - 280 Seiten - Insel, Frankfurt/M.; Erscheinungsdatum: Februar 1997; ISBN: 3458155988

Pro: faszinierende Ideen, Persiflagen, Gedankenspiele, mitunter humorvoll-ironisch
Kontra: erfordert hohes Bildungsniveau auf der PISA-Skala






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