Daniel Keyes
Die Leben des Billy Milligan
SF. Heyne, München. 589 Seiten. 12.80 DM . ISBN: 3453056590
Psycho-Thriller: der gespaltene Lügner
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Wie nennt man einen Menschen, mit dem man zusammenlebt und der unter mehrfacher Persönlichkeitsspaltung leidet? Sein Verhalten wird derart sein, das man gar nicht anders kann als zu sagen: „Du verdammter Lügner!“
Billy Milligan leidet an multipler Schizophrenie. Sein Inneres ist durch schwere Mißhandlungen und sadistischen sexuellen Mißbrauch im Kindesalter in 24 Scherben zersprungen, 24 Facetten, die ihr Eigenleben führen und sich einen Körper und ein Wachbewusstsein teilen. 1977 verhaftet ihn die Polizei, da er drei Frauen vergewaltigt und beraubt haben soll. 1991 wird er freigesprochen. Dies ist seine Geschichte.
Der Autor
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Der US-Autor Daniel Keyes, geboren 1927, wurde mit seinen preisgekrönten Romanen „Charly“ (Flowers for Algernon, 1959/1966) und „Kontakt radioaktiv“ (The Touch, 1968) bekannt. War schon „Charly“ (1968 verfilmt) schon eine bewegende Studie in künstlich verstärkten psychologischen Fähigkeiten und deren tragischer Verlust, so beschäftigen sich die späteren Romane „Die Leben des Billy Milligan“, „Die Enthüllung Claudias“ und „Die fünfte Sally“ stärker mit abnormen psychlogischen Phänomenen. In „Billy Milligan“ ist es multiple Schizophrenie. Es handelt sich dabei nicht um SF-Romane. Dennoch nahm Herausgeber Wolfgang Jeschke sie in die Heyne SF-Reihe auf.
Handlung
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Dies ist die wahre Geschichte des Billy Stanley Milligan, der im Alter von 22 Jahren im Oktober 1977 in Columbus / Ohio, als Triebtäter verhaftet und von drei Frauen einwandfrei als ihr Vergewaltiger identifiziert wird. Doch als der alsbald hinzugezogene Psychiater zu Billy in die Zelle tritt und ihn begrüßt, entgegnet der Insasse: „Ich bin nicht Billy, ich bin David.“
Lügt Billy da nicht etwas vor? Beileibe nicht: Ein Persönlichkeitswechsel hat inzwischen stattgefunden. Billy leidet an multipler Schizophrenie, und in seinem Gehirn leben 24 völlig verschiedene Persönlichkeiten nebeneinander. Kein Wunder, dass Richter und Rechtsanwälkte ebenso wie der gewöhnliche Spießbürger, wie es ihn überall gibt, Billy partout nicht glauben wollen. Sie schicken ihn vom Gefängnis ins Sanatorium und wieder zurück. Nur nach großem persönlichen Einsatz seiner Freunde gelingt es, Billy Persönlichkeiten miteinander zu verschmelzen, ihn zu heilen.
Mein Eindruck
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Daniel Keyes ist den Spuren von Billys Leben zwei Jahre lang gefolgt, wie er im Nachwort berichtet, und hat „tausend“ Interviews geführt, um schließlich die vollständige Geschichte der Krankheit und Heilung in drei separaten Buchteilen erzählen zu können – der vorliegende Roman.
Als ich den Roman las, war es wie eine Forschungsreise in die Weiten des menschlichen Bewusstseins. Ich war tief bewegt (genau wie bei der Lektüre der Schlusskapitel von „Charly“). Aber der Roman provoziert auch, nämlich immer dort, wenn er die Reaktionen zwischen Billy, dem Kranken und vermeintlichen Schwerverbrecher, und den respektablen Vertretern der umgebenden amerikanischen Gesellschaft, ebenfalls einem Täter, schildert. Die Frage taucht unwillkürlich auf, wer eigentlich die Schuld an den Verbrechen trägt, die Billy zur Last gelegt werden? Die Wut auf die Vertreter der Gesellschaft gesellt sich zur Hoffnung, Billy möge schließlich doch noch geheilt werden.
Die Bücher, die von Schriftstellern über Leute mit multipler Schizophrenie oder besser Syndrom dissoziativer Identität (DIS) geschrieben wurden, füllen mittlerweile Bibliotheken. Als die neuesten Beispiele seine nur „Die Geduld der Spinne“ von Jonathan Nasaw und „Freiwild“ von Tara Moss genannt. DIS ist inzwischen schon eine Modeerscheinung geworden, die ähnlich wie Hannibal Lecters Kannibalismus nur noch dazu zu dienen scheint, dem Gesicht des Schreckens noch eine weitere grausige Note zu verleihen. Der Psychothriller „Identität“ von James Mangold stellt schon gar nicht mehr die Heilung des DIS-geplagten Killers in Aussicht, sondern schockt den Zuschauer mit einem fatalen Ende.
Doch bei Daniel Keyes ist noch eine tiefe menschliche Anteilnahme am Schicksal des DIS-Opfers zu empfinden. Wie es zu den Spaltungen kam, ist ebenfalls erschütternd zu erfahren. Wie so oft war Missbrauch in der Kindheit der Auslöser. Hatte ich erst einmal mit dem Buch angefangen, konnte ich den 580 Seiten starken Roman nicht mehr aus der Hand legen.
Auch Gollum in Peter Jacksons Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“ ist eine schizophrene Gestalt. Vorübergehend gelingt die Heilung, und Sméagol, der Hobbit, kommt zum Vorschein. Doch er ist ein Mörder und geriet unter den Einfluss des Rings, eines mächtigen Symbols für absoluten Machtanspruch, der seinen Träger total korrumpiert. Nur der Survivor-Typ Gollum bleibt für die Welt sichtbar. Und als Frodo Gollum verraten muss, um sein Leben zu retten, erhält der alte Gollum wieder gegenüber Sméagol die Oberhand. Er wird Verrat mit Verrat vergelten.
Unterm Strich
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„Die Leben des Billy Milligan“ ist einer der wenigen ernsthaften Versuche, in literarischer Form dem Phänomen multipler Persönlichkeitsspaltung (DIS-Syndrom) auf die Spur zu kommen. Selbst heute noch gibt es Psychologen, die das Phänomen in Abrede stellen. Anders als Autoren wie Nasaw oder Moss unternimmt es Keyes, den Leser für das menschliche Schicksal des DIS-Kranken zu interessieren und sein Mitgefühl zu wecken, so dass er helfen will. Das ist umso schwieriger als es sich bei Billy Milligan offenbar um einen mehrfachen Vergewaltiger und Verbrecher handelt. Keyes gelingt das Kunststück dennoch, und zwar bravourös.
Leider gibt es diesen schönen Roman nur noch im Antiquariat oder in Auktionshäusern zu erwerben.
Michael Matzer © 2004ff
Info: The Minds of Billy Milligan, 1981/82; Heyne, München, 1985 & 1992, Nr. 06/4218; ca. 580 Seiten, aus dem US-Englischen übersetzt von Roland Fleissner; Originalpreis: DM 12,80; ISBN 3453056590.
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