Ines Geipel

"Für heute reicht's". Amok in Erfurt

Sach. Rowohlt, Berlin. 253 Seiten. 16.90 EUR . ISBN: 3871344796

Amerikanische Verhältnisse?
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Noch vor der Auslieferung hat Ines Geipels «Für heute reicht's» für Aufruhr gesorgt - und manches bewirkt.

Der 26. April 2002: Das Datum hat nichts von dem Beiklang, der lange in 1984 mitschwang, es ist nicht vergleichbar mit dem 11. September. Und doch starrten an diesem Tag Millionen Zuschauer weltweit auf ihre Fernsehbildschirme, um zu verfolgen, was da in Erfurt geschehen war. Auf die keine zwanzig Minuten währende "größte Mordserie, die Deutschland nach 1945 erlebt hat" (Zitat vom Klappentext) folgt ein neuer Horror: der des Nichtwissens, des Nichthandelns, dem entsprechend Verwirrung, Wut, Nichtglauben. TV-Crews filmen und übertragen, wie stundenlang nichts geschieht, wie Ärzte und Katastrophentrupps vor den Türen des Schulgebäudes auf Order warten. Fassbar ist das, was der 19-jährige Robert Steinhäuser angerichtet hat, bis heute kaum. Die Wut, vor allem der Erfurter, über Angst und Hilflosigkeit der Einsatzkommandos ist nachvollziehbar. Deren Unfähigkeit, die Situation schnell unter Kontrolle zu bekommen, und zwar auf kommunikativer wie exekutiver Ebene, muss analysiert werden - danach, wirklich erst dann, können Konsequenzen seriös diskutiert werden. Dann wäre zu überlegen, was daraus zu lernen ist, was verbessert werden kann. Auch: Sind Disziplinarmaßnahmen und Strafen wichtiger oder aus den Fehlern ableitbare Lehren und Lektionen?

Soll man aus Fehlern lernen? Wenn ja, so setzt das voraus, dass man Fehler machen darf. Wie viel Raum ist in einer auf Perfektion und Wettbewerb geeichten Industriegesellschaft für Fehler? Der vorläufige Abschlussbericht kam im Sommer 2002 zu dem Befund, Behörden und Offizielle hätten keine Fehler gemacht. Damit war die Sache erst einmal ad acta gelegt - die Normalität fast wieder hergestellt. Fast. Der 26. April 2002 sollte, vor allem für viele Erfurter, möglichst schnell abgehakt und vergessen werden.

Damit will sich Ines Geipel nicht zufrieden geben. «Für heute reicht's». Amok in Erfurt ist ihr Versuch, die Katastrophe mitsamt Vorgeschichte nachzuzeichnen. Als Autorin diverser Sachbücher und Mitbegründerin des Archivs 'Unterdrückte Literatur in der DDR' beschäftigt sich die Ex-Dresdenerin außer mit Tat und Täter besonders mit der Rolle der DDR, in der Steinhäuser geboren wurde, und mit der Post-DDR, in der er eingeschult wurde. Das Buch verspricht Aufklärung. Die Ex-Sportlerin aus der Ex-DDR nutzt den Fall zugleich, eigene Rechnungen zu begleichen, vornehmlich mit der - mangelnden - Vergangenheitsbewältigung in Ost- und West-Deutschland.

Dem Massaker, so extrem dass mancher nach Worten ringend von amerikanischen Verhältnissen sprach, nähert sich Ines Geipel wie man es von Sachbüchern aus Übersee kennt: Im Stil einer Reportage schickt sie eine gewisse Elsa nach Erfurt, um Licht in die Sache zu bringen. Was wie ein Krimi klingt, stilistisch auch etwa so aufbereitet wird, ist weder Sachbuch noch Fiktion. Die in der Vorbemerkung als "Protagonistin" vorgestellte Elsa hat nie existiert; wohl aber der Antagonist Robert Steinhäuser sowie sechzehn weitere Tote mitsamt Familien. Unbeirrt führt einen die fiktive Elsa durch Erfurt, in ihre ehemalige Schule, in Jugendkeller, in denen Schüler schimpfen und Drogen nehmen. Sie findet einiges, was plausibel klingt: Von der Kinderstube über das Gutenberg-Gymnasium, Erfurts Vorzeigestatus, sein Bundesland, natürlich wieder mal die Ex-DDR bis hin zu einer Bildungspolitik, die seit PISA aus allen bundesdeutschen Lagern und Klassen Keile bezieht (im Ausland übrigens nach wie vor für eine versehentlich in Versalien geschriebene Stadt gehalten wird). Womit wir bei den ganz großen Themen ankommen, bei der Politik, wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, beim sozialen Niedergang in den ostdeutschen Bundesländern, dem föderalischen Bildungssystem mit seinem in Thüringen eigenen Passus: Wer ohne Mittlere Reife das Abitur verpasst, wird ganz ohne Schulabschluss ins Leben entlassen. Die Kausalkette ist plausibel. Um die komplette Wahrheit zu erfassen scheint sie zu plausibel und simpel, eben ergänzt mit Fiktion, wo sonst Leerstellen wären. Ob die Reportage die ideale Form ist zu beschreiben, wie ein Einzelner sechzehn Menschen und dann sich selbst hinrichtet, ist fraglich. Die Erfurter entschieden, dass sie Geipels Buch für unangemessen halten.

Weiter im Text: Die vermeintliche Studentin an der Hochschule für Schauspielkunst - Elsa - sammelt eifrig Tatsachen und Meinungen von kleinen wie großen Bühnen, und ihre Schöpferin, die an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" lehrende Ines Geipel schreibt mit. Für das Kernstück des Buchs überlässt die fiktive Elsa dem realen Antagonisten die Bühne. Statt Reportage oder Kolportage folgt eine Montage aus Interviews, Zeitungsartikeln und auch Vernehmungsakten der Staatsanwaltschaft. Die von Geipel zusammengepuzzlete Rekonstruktion - vom nicht ordnungsgemäßen Schulverweis, fehlender Solidarität der Schülermitverwaltung hierbei, über den Waffenerwerb und Schießübungen bei diversen Vereinen (darunter der Bund Deutscher Militär- und Polizei-Schützen) - endet mit einer minutiösen Aufzeichnung der letzten halben Stunde im Leben Steinhäusers, der so ganz und gar nicht blindwütig wie ein Amokläufer vorging, sondern so zielgerichtet gegen Lehrer, dass es einen eiskalt erschaudern lässt. Inwieweit auf diesen Seiten Fakten und Fiktionen vermischt werden, ist nicht klar ersichtlich - was extrem irritiert. Ein Anhang mit präzisen Quellenangaben fehlt dem Buch. Besonders bei dieser Passage verstört und verwirrt die Unklarheit über Erzählstimme, werden hier doch Zeugenaussagen Betroffener direkt neben Anleitungen für Computerspiele zitiert, unterbrochen von in ihrem saloppen Ton unglaublichen, vor allem unglaublich erschreckenden O-Tönen des Polizeifunks. Wenn nichts in dieser Passage fiktiv ist, alles von belegbaren Dokumenten stammt, dann ist das Einflechten von PC-Spieleanleitungen dramaturgisch wie ethisch einfach nur geschmacklos; wenn das meiste Fiktion ist, dann ist es den Fakten gegenüber respektlos. In beiden Fällen dient es nicht der Aufklärung. Noch vor der Metamorphose des 19-Jährigen ohne Schulabschluss in "einen Ninja-Kämpfer mit gestrickter schwarzer Wollmaske" macht sich Geipel ihren Reim auf das, was vorgefallen sein müsste. Sie beschreibt, wie in ihm der Plan reift, der zum Super-GAU. Auch dies kann Ines Geipel selbst nach eingehendem Studium von Akten und Illustrierten (!) nur annehmen - es erscheint schlüssig, also präsentiert sie es wie eine Tatsache. Von diesen Mischformen unangenehm verwirrt, blättert man zurück. Wieder stößt man auf diesen Superlativ der "größten Mordserie" - der weder Opfern noch Angehörigen und Freunden gerecht wird, irgendwo auch ein Tritt ist gegen die am 5. September 1972 ermordeten Menschen, auch gegen die dreizehn Todesopfer und über 200 Verletzten des Oktoberfests 1980.

Geipels Herangehensweise verteidigend, ließe sich mit den amerikanischen Verhältnissen argumentieren: Norman Mailer, James Ellroy, Oliver Stone und Don DeLillo näherten sich mit dieser Methode - Verquirlung von Fakt und Fiktion, Bericht und Reportage - der Biografie John F. Kennedys und dem 22.11.1963. Aber sie fabulierten nicht schon Monate nach dem Ereignis, und sie bezogen sich auf einen Mann des öffentlichen Lebens, der nicht ungewollt in diese exponierte Stellung geraten war.

Das "literarische Sachbuch", wie von Geipel im Kreuzfeuer empörter Erfurter tituliert, liefert keine Aufklärung im Sinne von enlightenment, Klärung. Zu den neue Teilchen in ihrem Mosaik aus größtenteils bekannten Fakten gehören Zeugenaussagen, laut derer es vor der Tat zwei Warnrufe gegeben habe. Ansonsten ist es eine Montage aus teils bekannten Fakten und Zitaten, teils unbekannten, garniert mit nachvollziehbarer Kritik an der Gesellschafts- und Bildungspolitik. Statt zu klären, fragt die Autorin viel - eins allerdings nicht: Wo befand sich die Schulleiterin, während Steinhäuser das komplette Gebäude durchkämmte, dabei systematisch Lehrer hinrichtete (die zwei Schüler wurden von ihm nicht gezielt, sondern durch verschlossene Tür angeschossen. Sie verbluteten, höchstwahrscheinlich weil der Einsatzleiter Sonderkommandos und Rettungs-Sanitäter, über 270 Beamte, allzu lange von der Evakuierung zurückhielt).

Immerhin: Das Buch hat nicht nur einige Erfurter bewegt. Fragen nach dem Einsatz, Geipels Kritik an dem Bestreben, eilig die alte Normalität wiederherstellen zu wollen, haben für Aufruhr gesorgt. Dem Justizministerium wurde vom Kabinett ein Prüfauftrag erteilt. Unter der Leitung von Justizminister Karl Heinz Gasser (CDU) soll eine Kommission, bestehend aus einem Staatsanwalt und drei Richtern, bis Ende Februar offene Fragen klären. Anfang März möchte der Rechtsanwalt und Opfervertreter Eric Langer eine Strafanzeige gegen Verantwortliche des Einsatzes der Staatsanwaltschaft vorlegen. Falls im Zusammenhang mit dem Buch zu verstehen, ist diese Wirkung sowohl viel versprechend als auch alarmierend: Wieviele vorläufige Abschlussberichte, fragt man sich da unweigerlich, bleiben unberührt in Aktenschränken, nur weil sich ihnen keiner - egal wie - annimmt?

Bei allen geäußerten Grundsatzfragen übergeht auch Ines Geipel die eine, die selbst nach PISA niemand stellt: Was soll Schule? Sollen Menschen so ausgebildet werden, dass sie danach Fabrikschlote am Rauchen halten, Konzerne lenken und neue Weltmärkte erobern oder sonstwie dem zuarbeiten, worum es im öffentlichen Diskurs ständig geht - das Wirtschaftswachstum fördern, wenn schon nicht an Fließbändern oder in den Kommandobrücken der Macht, dann wenigstens als zahlende Konsumenten. Oder sollen selbständig denkende und mutig handelnde Individuen ausgebildet werden, soll soziale Verantwortung genauso geformt werden wie die Ellbogen gestählt? Ach so, alles zusammen - sowohl Maschinenbauer als auch Maschinisten und wie Maschinen funktionierende Ja-sager, dazu ein paar Kreative und Chaoten, die erfinden, wie die Maschinen zu verbessern wären... Und außerdem - wie nun an einer Bremer Schule - das Fach UBV ("Umgang, Benehmen, Verhalten").

© Matthias Penzel, 2004. Original erschien dieser Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 23.02.2004






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