Manfred Peter Hein

Fluchtfährte

Roman. Ammann Verlag, ISBN: 3-250-10392-6

Manfred Peter  Hein: Fluchtfährte

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Von der Napola nach Finnland

Manfred Peter Heins Erzählung „Fluchtfährte“

Hört man genau hin, vermag man vielleicht noch ein schwaches Echo jener Überlegungen zu vernehmen, mit denen der anmutig altmodische Erzählergermanist W.G.Sebald gerade erheblich für Aufregung und Widerspruch in den Feuilletons gesorgt hat. Im Herbst 1997 hatte er in Zürich eine Poetik-Vorlesung unter dem Titel „Luftkrieg und Literatur“ abgehalten, die jetzt überarbeitet und ergänzt um eine Nachbemerkung zur Resonanz und einen fulminanten Essay zu Alfred Andersch als Buch erschienen ist. Eine eher zufällige Beobachtung an der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur wurde Sebald bei genauerer Musterung zur zentralen These, es existiere so gut wie keine bedeutsame literarische Auseinandersetzung mit dem verheerenden Bombardement gegen die deutschen Städte und dessen traumatischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Flucht, Vertreibung und Zerstörung hätten kaum literarisch anspruchsvollen Niederschlag gefunden.

Den zahlreichen Kritiken war immer wieder auch der Hinweis auf Autoren und Werke zu entnehmen, die einen angemessenen Verschriftungsversuch jener kollektiven Katastrophe unternommen hätten, bei Sebald aber keine Beachtung hatten finden mögen.

Auch für das Vernichtungserlebnis des zweiten Weltkrieges konnte sicherlich gelten, was Walter Benjamin in seinem Lesskow-Essay für die Verheerungen 1914/18 diagnostizierte: „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“

Vielleicht sollte man die jetzt erschienene, stark autobiographisch grundierte Erzählung „Fluchtfährte“ des 1931 im ostpreußischen Darkehmen geborenen Dichters Manfred Peter Hein gerade vor dem Hintergrund dieser vermeintlichen Wahrnehmungsinsuffizienz lesen. Seit 1958 lebt Hein in Finnland und wurde in den 60er und 70er Jahren vor allem als Übersetzer aus dem Finnischen bekannt. Seiner ganz eigenen Idee von „Nordosteuropa“ verpflichtet, bemühte sich Hein in den 80er Jahren als Herausgeber der Buchreihe und des Jahrbuchs „Trajekt“ um die Vermittlung finnischer, finnlandschwedischer, lappischer, estnischer, lettischer und litauischer Literatur, bevor er mit der Verleihung des Peter-Huchel-Preises 1984 auch mit seinem lyrischen Werk in den Vordergrund rückte.

Und nun die Vergegenwärtigung einer ostpreußischen Kindheit und Jugend im Schoß einer nationalsozialistisch inspirierten Familie. „Man hätte sie fragen können, die vor ein paar Jahren noch lebten oder vielleicht jetzt noch leben. Die Notwendigkeit der Archive auch für diese Dinge, die kleinen, beinah anonymen, vielleicht wären die einem heiß auf die Nägel gegangen.“ Nicht aber die eigenen Eltern befragt der Erzähler darüber, wie es war und wie es dazu kam, nicht seinen Vater, einen national gesinnten Volksschullehrer, der - zusammengeschossen im ersten Krieg - einen mächtigen Krummsäbel, Beutestück aus seinem Einsatz im siegreichen Rußlandjahr, neben den Bücherschrank hängte und es sonst eben noch zum Sportoffiziersausbilder brachte. Dieser Vater schwieg zu allem, lebenslang. „Einzig und allein Geschichten seine Geschichte?“ Und auch die Mutter wußte zu vielem nichts zu sagen.

In permanentem Wechsel von Ich und Er geht der anamnetische Weg des Erzählers in jenes geheimnisvolle Innere, von dem Novalis einst sein Zeugnis gab. Viele Stimmen überlagern sich da im dichten Raum einer sich der eigenen Kindheit vergewissernden Subjektivität, die sich immer wieder nur selbst zu befragen weiß.

Ein höchst eigenwilliger Ton bildet sich da aus, der die Abbreviatur des Lyrikers in die Prosa überführen möchte und assoziativ durch erinnerte Gespräche und Situationen huscht, ohne Madeleines in den Tee zu tauchen. Wir verfolgen die Spuren eines Lebens, das mit einem Irrtum beginnt: Der Erzähler wird fälschlicherweise im Haus seiner Großeltern in Darkehmen geboren, nicht wie geplant im Heim der Eltern in Labiau, das gemäß großdeutscher Anordnung damals schon Angerapp hieß.

Wo der Vater sich bereits vor 1933 in achtundzwanzig Ehrenämtern aufrieb und erfolglos an einer Schriftsteller-, Wissenschaftler- und Sportlerkarriere werkte, wurde dem Sohn früh bestimmt: „Er soll schreiben, der Sohn!“

Bis zu dieser auferlegten Autorschaft freilich durchläuft der Junge die Napola in Stuhm und träumt noch 1945 auf der Flucht in die hessische Provinz die hohlen Ostlandträume seiner Eltern mit.

Vor den Schulkameraden dann auf dem Gymnasium das Erlebnis der ersten Lesung aus Eigenem, schwitzend unterm Arm die kleine Geschichte, immer im Bewußtsein: „Winzling, unreif, überall zu spät. Träumer - Waldgänger ... Flüchtling-.“ Erst als Werkstudent in Marburg, München und Göttingen gelingt es dem Heranwachsenden, sich aus der „ostischen Mystik“ seines Vaters herauszuwinden, der noch bei Josef Nadler in Königsberg von der Literaturgeschichte deutscher Stämme gehört hatte.

Vor allem die Reisen des plötzlich Erwachsenen in die nordöstlichen Landschaften werden in der Rückschau des Epilogs lesbar als notwendige Ausbruchsbewegung, die ihren sprichwörtlichen Fluchtpunkt in der Emigration nach Finnland finden sollte.

Im Blick auf die eigene Jugend steht diese Erzählung vielleicht in einer Linie mit den autobiographisch fundierten und literarisch überformten Vergegenwärtigungsversuchen eines Martin Walser (“Ein springender Brunnen“), Ludwig Harig (“Ordnung ist das ganze Leben“, „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“), Gert Hofmann (“Veilchenfeld“) oder Erwin Blumenfeld (“Einbildungsroman“).

Einige Passagen erinnern stilistisch und atmosphärisch ein wenig an den „Törleß“, auch an Arno Schmidts „Umsiedler“ mag man in den Flucht- und Treckszenen denken. Allerdings bereitet der manchmal nahezu privatsprachliche Ton der Erzählung in seiner Dichte bei der Lektüre doch einige Mühe und verlangt besonders in der Geschlossenheit der um Authentizität bemühten Ich-Perspektive ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Ein spröder Stil, der es sich und dem Leser nicht leicht machen kann und will, und ein Erinnern, das sich erkennt als „sich aufbrauchende vom Leib zu schreibende Nostalgie“. Mit Recht, so läßt die ernüchterte Schlußfeststellung schließen: „Ihr wußtet, damals - gewiß nicht alles, aber genug. Und habt geschwiegen bis zuletzt.“

Oliver Jahn






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