Philip K. Dick

Der heimliche Rebell

SF. Moewig, Rastatt. 192 Seiten. 5.80 DM . ISBN: 3-8118-3529-7

Skurril: Denkmalschändung durch Schlafwandler
Philip K.  Dick: Der heimliche Rebell

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Im Jahr 2114 sind Kriege und Hungersnöte vom Antlitz der Erde verschwunden, Frieden und Wohlstand sind die Regel – mehr noch: Sie sind Pflicht. Es gibt Mittel, dafür zu sorgen, dass jedermann zufrieden ist. Allen Purcell hat besonderen Grund, zufrieden zu sein, ist glücklich und erfolgreich.

Doch eines Tages wird die Statue von Major Jules Streiter, dem Vater dieses Wohlstands, geschändet. Die Jagd auf den Systemfeind beginnt. Allen Purcell macht sich Sorgen. Könnte sein Unterbewusstsein dafür gesorgt haben, dass er, Purcell, diese abscheuliche Tat beging? Doch warum und wozu?

Der Autor
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Philip Kindred Dick (1928-1982) war einer der wichtigsten und zugleich ärmsten Science Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Obwohl er in fast 30 Jahren 40 Romane und über 100 Kurzgeschichten veröffentlichte (1953-1981), wurde ihm zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung außerhalb der SF zuteil. Oder von der falschen Seite: Das FBI ließ einmal seine Wohnung nach dem Manuskript von "Flow my tears, the policeman said" (dt. als "Die andere Welt" bei Heyne) durchsuchen. Okay, das war unter Nixon.

Er war mehrmals verheiratet und wieder geschieden, philosophisch, literarisch und musikologisch gebildet, gab sich aber wegen des Schreibstress' durchaus dem Konsum von Medikamenten und Rauschdrogen wie LSD hin - wohl nicht nur auf Erkenntnissuche wie 1967. Ab 1977 erlebte er einen ungeheuren Kreativitätsschub, die sich in der VALIS-Trilogie (1981, dt. bei Heyne) sowie umfangreichen Notizen (deutsch als "Auf der Suche nach VALIS" in der Edition Phantasia) niederschlug.

Er erlebte noch, wie Ridley Scott seinen Roman "Do androids dream of electric sheep?" zu "Blade Runner" umsetzte und ist kurz in einer Szene in "Total Recall" zu sehen (auf der Marsschienenbahn). "Minority Report" und "Impostor" sind nicht die letzten Stories, die Hollywood verfilmt hat. Ben Affleck spielte in einem Thriller namens "Paycheck" die Hauptfigur, der auf einer gleichnamigen Dick-Story beruht. Als nächste Verfilmung kommt "A scanner darkly" (Der dunkle Schirm).

Handlung
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Im Jahr 1972 hat der Atomkrieg mit Japan stattgefunden. Dabei wurde das Kaiserreich radioaktiv verseucht, aber auch die USA mussten schwere Verluste hinnehmen: Noch 130 Jahre später fahren die Autos mit Dampf. Deshalb organisierte Major Jules Streiter 1985 die Moralische Restauration, kurz MoRes genannt (im Original MoRec, von Moral Reclamation). Sie schaltete alle Volksgenossen gleich, stellte eine militärische Organisation auf – die „Kohorten“ - , schuf mechanische Spitzel (die „Pimpfe“) und errichtete als Propagandaministerium die Telemedia, kurz T-M- genannt. Alle Unangepassten und geistig Verwirrten landeten in der „Zuflucht“, wo man sie psychiatrisch behandelt: einer anderen Welt weit weg von der Erde.

Myron Mavis ist im Jahr 2114 der Chef der T-M, und für Agenturchef Alan Purcell ist er der wichtigste Kunde. Purcells kreative Forschungsagentur erarbeitet Konzepte für Sendungen und Kampagnen seit zwei Jahren, und bislang konnte sich die T-M auf die Qualität verlassen. Beim neuesten Konzept kommen jedoch Zweifel auf, ob es mit den strikten ideologischen Vorgaben der MoRes in Einklang steht. Doch Sue Frost, eine führende Angestellte der T-M, sieht das Potential und schlägt sogar Purcell als Nachfolger des gesundheitlichen angeschlagenen Mavis vor. Purcell erbittet sich Bedenkzeit, denn etwas Wichtiges ist passiert.

Am 8. Oktober erscheint nämlich ein Zeitungsartikel, der berichtet, dass die bekannte Statue von Major Jules Streiter, die im Park von Newer York steht, geschändet wurde. Seiner Frau Janet beichtet Alan, dass er der Täter war. Aber er könne sich einfach nicht daran erinnern, was er mit der Statue angestellt habe, geschweige denn, aus welchem Grund er so etwas Systemfeindliches getan haben könnte. Janet hat die roten Farbspritzer und das Gras auf seinen Schuhen gesehen und weiß bereits Bescheid. Die Sache bringt sie seelisch aus dem Gleichgewicht, aber ein paar Beruhigungspillen schaffen da Abhilfe.

Purcell geht in den Park, um herauszufinden, was passiert ist. Dort trifft er eine junge Frau, die es ihm erklärt: Jemand hat der Statue den Kopf abgesägt und alles rot angestrichen, dann hat derjenige das Bein so erhitzt, dass das Plastik schmolz und das Bein einknickte. Nachdem er den Kopf in die ausgestreckte Hand des Visionärs gelegt hatte, sah es so aus, als wolle Streiter seinen eigenen Kopf wegkicken. Kein Wunder, dass die ersten Zuschauer über diesen Anblick gelacht haben, aber jetzt verstellt eine Verschalung den Blick auf die Statue.

Sie fragt Purcell, ob er Hilfe benötige. Als er bejaht, gibt sie ihm einen Zettel mit ihrem Namen: Gretchen Malparto. Aber ihre Adresse ist der brisante Teil: Sie kommt aus dem weggesperrten Teil des Systems. Sie kommt aus „Zuflucht“, der Anderen Welt, wo Psychiater sich um die Bewohner kümmern. Der Psychiater, den er auf der Erde besucht, stellt sich als ihr Bruder heraus. Er ist ganz versessen darauf, bei Purcell eine verborgene parapsychische Fähigkeit festzustellen. Doch wie ihm Gretchen sehr viel später erklärt, verfügt Purcell als einzige „psionische“ Fähigkeit über etwas Außergewöhnliches: einen Sinn für Humor.

Wie außergewöhnlich gut entwickelt Purcells Sinn für Humor, erweist sich, als er der bereits am ersten Tag in Ungnade gefallene Direktor der Telemedia wird. Er holt aus Hokkaido zwei alte Freunde, gräbt ein paar Fakten über Major Streiter aus und fabriziert eine Satiresendung, die es in sich hat. Was mag wohl „Aktive Assimilation“ sein, fragen sich die braven Bürger der MoRes-Kultur.

Mein Eindruck
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Es ist schon interessant, dass ich zuerst dachte, dieser Roman stamme aus Dicks schlechtester Schaffensphase Mitte der sechziger Jahre. Der Grund dafür ist der, dass die Story die gleiche typische Zweiteilung wie jene Romane aufweist (z.B. in „Die rebellischen Roboter“). Auf den ersten hundert Seiten langweilte mich der Autor mit einer schrecklich drögen Story über einen Mann, der bislang brav die Arbeit des Propagandaministeriums unterstützt hat, aber nur eine schier unglaubliche Tat aus seinem Unterbewusstsein heraus begeht, für die er keine Erklärung hat.

Der radikale Bruch

Erst um die Seite 100 herum ereignet sich der für Dick so typische Bruch mit der bisherigen Realität, und der Held findet sich in einem Traumland wieder, dass eine fatale Ähnlichkeit mit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat. Und potztausend: Die Bewohnerin seines Traumhauses behauptet, sie sei seine, Johnnys, Frau – es ist Gretchen Malparto! Von nun an geht es in der Handlung drunter und drüber. Ich hatte den Eindruck, mit in einer von A.E. van Vogts Abenteuergeschichten zu befinden, in der sich die Handlung quasi im Zickzackkurs vorwärtsbewegt. Das Dick seinen Kollegen van Vogt kannte, ist belegt und auch, dass der ältere Meister aus dem Stall von John W. Campbell seinem jüngeren Azubi ein paar Tricks beibrachte.

Daher weist die zweite Hälfte des Romans eine wesentlich höhere Spannung als die erste auf. Und auch jede Menge Ironie schimmert hindurch. Die verlogenen Exponenten der MoRes nämlich bekommen ihr Fett ebenso weg wie die braven Bürger im allgemeinen. Eine der spannendsten Szenen ist jene, die wie einer jener Volksprozesse unter Stalin in den dreißiger Jahren abläuft.

Schauprozesse

Auch an die Nazis erinnert die Szene, in der der weibliche Blockwart Mrs. Birmingham Berichte der Schnüffler vorliest und Anklage gegen den Bürger Alan Purcell erhebt: wegen „anstößigen Treibens“ mit einer Frau, die nicht seine eigene sei (gemeint ist Gretchen, die Alan in seinem Telemedia-Büro geküsst hat). Die Inquisition hatte wenigstens den Vorteil physischer Folter, aber die Strafe, die Purcell verpasst bekommt, ist auch nicht von Pappe: Sein Mietvertrag wird für ungültig erklärt. Das kommt einer Exkommunikation gleich.

Am Schluss hätte er die Chance, mit Mavis auf eine andere Welt auszuwandern. Aber etwas bringt ihn dazu, seinen Entschluss zu überdenken. Er will nicht davonlaufen, sondern für seine Taten einstehen. Ob er damit das Regime der MoRes stürzen kann, ist zu bezweifeln, aber wenigstens stellt er sich seiner Verantwortung.

Ein gemeiner Vorschlag

Die Satiresendung, die er über den Sender von Telemedia verbreitet hat, bevor man ihm den Saft abdrehte, erinnert einerseits an Kubricks „Dr. Seltsam“, andererseits ist die Idee aber von Jonathan Swift geklaut. In Swifts Satire „A modest proposal“ aus dem Jahr 1729 schlug Swift vor, die Probleme der Armut, des Hungers und der Überbevölkerung in Irland (wo er Prediger war) auf einen Schlag dadurch zu beheben, dass man die Kinder als Essen für die Armen verwendet.

Purcell unterstellt, dass Major Streiter nach dem Atomkrieg seine Anhänger nur ernähren konnte, weil er die Feinde gefangennahm und sie an seine Freunde und seine Familie verfütterte. Purcell (also Dick) verfährt bei dieser Darstellung exakt nach Swifts Vorbild. Er nimmt eine absurde Vorstellung und präsentiert sie auf absolut ernstzunehmende Weise. Dazu hat er seine Angestellten und die Freunde aus Hokkaido ins Sendestudio eingeladen und gibt sie als Kapazitäten auf dem Gebiet der Geschichtsforschung usw. aus.

Die Vorstellung, Major Streiter, der Vater des Vaterlandes, könne Menschen gegessen haben, untergräbt natürlich dessen moralische Autorität aufs schärfste. Dass dies nur bildlich zu verstehen ist, braucht Purcell nicht klarzumachen: Es würde sowieso niemand außer seinen Freunden verstehen, die immerhin James Joyces „Ulysses“ gelesen haben.

Dass Dick Swifts Idee geklaut und seinem Zweck angewandelt hat, sollte man ihm allerdings nur bedingt vorwerfen. Viele andere Autoren sind ähnlich verfahren. Die Frage ist, ob es funktioniert. Und es funktioniert ganz hervorragend, solange man die Ironie versteht, die dahintersteckt. Nähme man die Sendung – wie Mrs. Birmingham – für bare Münze, erlitte man wohl den Schock seines Lebens.

Der sinnliche Mr. Dick

Gretchen Malparto (= der schlechte Teil?) ist das verführerische „dunkelhaarige Mädchen“, das zu Phil Dicks lebenslanger Obsession wurde. Meist erscheint diese Verkörperung der Großen Mutter als ein aktives Frauenzimmer, das den männlichen Helden verführt und ihn dann mehr oder weniger verrät. Selbstredend lässt sie ihre beträchtlichen weiblichen Reize spielen, und so verwundert es nicht, dass Purcell, der Held, ständig von Brüsten und Busen umgeben zu sein scheint.

Ja, an einer Stelle stößt er im Chicago der fünfziger Jahre – also in der Anderen Welt – sogar auf eine junge Frau, die splitternackt in ihrem Garten sonnenbadet, aber Purcell gerne den Weg zeigt. Er muss sich vorkommen wie im Garten Eden vor dem Sündenfall, und definitiv geht Mr. Dick hier die sinnliche Phantasie durch.

Unterm Strich
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Ein zweigeteilter Roman – wie ist der wohl zu bewerten? Soll man als Maßstab die besten Romane Dicks heranziehen, wie Lawrence Sutin es tut? Dann erhielte dieser Roman nur 2 von 10 möglichen Punkten. Oder sollte man ihn an den besten SF-Romanen jener Zeit messen? Das waren nämlich äußerst wenige, so etwa „Lobgesang auf Leibowitz“ (1959) von Walter M. Miller. Dann erhielte „Der heimliche Rebell“ gerade mal noch fünf von 10 Punkten und zwar vor allem für die einfallsreiche Darstellung des moralisch-totalitären Regimes der heiligen MoRes. Und dafür, dass ich mich im zweiten Teil köstlich amüsiert habe.

Daher vergebe ich drei von fünf Sternen und empfehle das Buch mit den genannten Vorbehalten.

Michael Matzer © 2006ff

Info: The Man Who Japed, 1956; Moewig 1981, Nr. 3529, Rastatt; 192 Seiten, aus dem US-Englischen übertragen von Karl-Ulrich Burgdorf; ISBN 3-8118-3529-7, Preis: 5,80 DM.

Wörter: 1787

Pro: einfallsreich, ironisch-humorvoll, ziemlich erotisch, spannende 2. Hälfte, gute Übersetzung

Kontra: zunächst todlangweilig, gibt’s nur noch im Antiquariat und bei Ebay & Co.






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